Vertreibung
Die 12 Jahre der nationalsozialistische Herrschaft haben hier deutliche Spuren hinterlassen. Im Allgäu wurden nach den Benes Dekreten 38.000 vertriebene Sudentendeutsche in einem ehemaligen Zwangslager einer Munitionsfabrik angesiedelt. Sie und ihre Leidensgenossen wurden nach anfänglichen Widerstand ihrer heimischen „Brüder und Schwestern“ zum sog. „4. Stamm Bayerns“. Andere, die das Schicksal in dieser Zeit weit heftiger getroffen hat, finden nur verschämt Erwähnung. Und über allen strahlt der „Wunderdoktor“ Kneipp.
Türkheim KZ Friedhof © Hans-Jürgen Hereth 2023
7-Schwaben Brunnen Türkheim © Hans-Jürgen Hereth 2023
Mit der Bundesbahn kommt man recht flott von München aus nach Türkheim. Dort am Bahnhof weist ein kleines Schild auf dem KZ-Friedhof des Außenlagers Kaufering. Neben einer Kleingartenkolonie in einem kleinen Wäldchen findet man ziemlich versteckt das Mausoleum und einige einzelne Gräber. Ein etwas makaberer Auftakt für eine Tour, aber das Thema Tod wird einem bei dieser Tour noch weiter begleiten. Auf der geteerten Straße geht es nach Türkheim bis zum Schloss mit seiner schönen Gartenanlage, dem 7-Schwaben Brunnen und dem gleichnamigen Museum. In dem Schwank von Ludwig Auerbacher (1784–1847) werden die Abenteuer von sieben als tölpelhaft dargestellten Schwaben geschildert, die sich u.a. in einen Kampf mit einem Untier beweisen, das sich schließlich als Hase erwies.
Nach Bad Wörishofen führt ein neben der Bundesstraße angelegter Radweg. Kurz vor der Autobahn befindet sich ein Hinweisschild auf die Salamader-Produktion. Hier werden die berühmten Schuhe von Lurchi und seinen Freunden hergestellt. Die älteren Mitbürger werden sich noch an die spannenden Rhöntgenapparate erinnern, in denen man in den Salamander Schuhgeschäften früher seine Knochen betrachten konnte. Heute ein Unding, damals hat das keinen „gekratzt“.
Kneipp Plakette © Hans-Jürgen Hereth 2023
Kneipp Wohnhaus © Hans-Jürgen Hereth 2023
Hilfe ganz anderer Art wollte und konnte der Pfarrer Kneipp seinen Mitmenschen zukommen lassen, nur dass man dafür keine Schuhe benötigte, sondern im Storchenschritt durch kaltes Wasser traben musste. Der Ort ist damit zum „Bad“ und recht bekannt geworden. Schöner ist er mit den ganzen Kurhotels sicher nicht geworden. Der eindrucksvollste Ort in Wörishofen ist zugleich der unscheinbarste, die Klosterkirche mit ihrer schwarzen Madonna, einem herzzerreißend schönen Jesulein und einem mächtigen von Putten getragenen Altar.
Der Wasserdoktor
Früh schon kam Kneipp in Kontakt zu pflanzenheilkundlichen Schriften. Virulent wurden diese für ihn aber erst 1848. Wohl an Tuberkulose leidend, entdecke er das Buch „Unterricht von Krafft und Würkung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen“ von Johann Siegemund Hahn (1833) und gesundete nach den dort empfohlenen Kaltbädern und Wasseranwendungen vollständig. Seine Erfahrungen ließ er auch anderen Patienten zu Teil werden, was ihm erste Anzeigen wegen „Kurpfuscherei“ und „Gewerbebeeinträchtigung“ einbrachte. Da ging es ihm ähnlich wie Amalie Hohenester. 1854 wurde ihm die Heilung von 24 Cholera Patienten zugeschrieben. Nach dem Studium der Theologie in Dillingen kam Kneipp, mittlerweile der „Cholera-Kaplan“, 1855 als Beichtvater und Hausgeistlicher in das Dominikanerinnen Kloster in Wörishofen.
Wörishofen Klosterkirche © Hans-Jürgen Hereth 2023
Enthauptung Laurentia © Hans-Jürgen Hereth 2023
Hier restaurierte er die Justianakirche und die Pfarrkirche der Hl. Laurentia mit dem Deckengemälde ihrer Enthauptung, baute die klösterliche Landwirtschaft wieder auf und gab seine Kenntnisse und Erfahrungen eines ganzheitlichen Gesundheitskonzeptes auch an nichtzahlende Gäste weiter. Wegen seiner Behandlungsmethoden wurde er bis ins hohe Alter von schulmedizinischer Seite verklagt. Das tat seiner anwachsenden Popularität aber keinen Abbruch. Gegen Ende des 19. JH kürte die Washington Post Kneipp sogar zur drittberühmtesten Person der Welt. Seine Heilmethoden wurden in einer Vielzahl von bis heute bestehenden Kneipp-Vereinen weitergepflegt. Auch seine Bücher wie „So sollt ihr leben“ und „Meine Wasserkur“ erfreuen sich heute wieder verstärkter Beliebtheit. Mit Plagiatsvorwürfen wie heutige Politiker musste er sich nicht auseinandersetzen, auch wenn er die von ihm bearbeitete Vorlage für sein Buch die „Gräfenberger Wassercur“ nicht einmal erwähnte. Auch ein deutsches Verb ist auch nach ihm benannt: kneippen. Das hat etwas mit dem Staksen in kalten Wasser, aber nichts mit dem häufigen Aufenthalt in Schankwirtschaften zu tun, auch wenn es dort auch um (die Aufnahme von) kalten Flüssigkeiten geht. Kneipe ist von klemmen oder zwicken, also den nahen Zusammensein in solchen Lokalitäten, abgeleitet. Seinen sprachlichen Ursprung haben Wort und Ort wie üblich bei den Römern. Außerhalb der römischen Kastelle befand sich häufig eine Zivilsiedlung mit Markt und Händlerbezirk. Noch häufiger befanden sich dort, die auch von den Soldaten aufgesuchten Trinkstuben und Bordelle, „canabae“ benannt, von dem sich dann das deutsche Wort „Kneipe“ ableitete.
2021 feierte das Kloster Wörishofen sein 300 jähriges Jubiläum. Die Nonnen, die den Betrieb am Laufen gehalten haben und von den damit entstehenden Trubel überrannt und aus ihrer eigentlichen Berufung gerissen wurden, werden aber meist vergessen. Beten, arbeiten und schweigen. Diesen strengen Regeln des Heiligen Dominikus hatten sie sich verpflichtet, da ist Murren oder Aufbegehren natürlich nicht angesagt. Heute leben noch 8 Nonnen im Kloster. Gegenwärtig wird an einer Stiftung gearbeitet, damit das Kloster auch in Zukunft – ähnlich wie die Burg Harburg (Nördlingen) - wirtschaftlich und rechtlich autonom betrieben werden kann.
Wertach © Hans-Jürgen Hereth 2023
Pforzen Hammerschmiede © Hans-Jürgen Hereth 2023
Am einfachsten dem Schild „Fernverkehr“ durch Wörishofen folgen. Rechts am Ortsende sieht man eine schöne Lindenallee und gegenüber dieser führt ein Wirtschaftsweg unter der Bundesstraße hindurch. Egal ob man sich für Stockheim oder Flugplatz entscheidet, auf schönen Nebenstraßen und Feldwegen gelangt man entlang des Wertach-Wegs bis Pforzen. Die Wertach selbst ist ein flott fließender Fluss, der die Farbe von ausgelaufener Gülle hat. Riecht nicht so, turnt aber auch nicht unbedingt zum Baden an. In Pforzen, genauer gesagt bei der Hammerschmiede wurde „Udo“ und viele andere seiner Zeitgenossen gefunden. Die Lehmgrube muss ziemlich versteckt liegen. Sichtbar sind nur die Hammerschmiede und die Ziegelei.
Geklemmt hat bei Danuvius Guggenmosi nichts. Bei ihm war noch alles fit im Schritt. Eine (wissenschaftliche) Sensation ist der kleingewachsene Udo, wie er gemeinhin genannt wird, aber dennoch. Gilt er doch als missing link in der Entwicklung des Menschen vom Affen zum Homo sapiens. Gefunden wurde dieser aufrecht gehende Menschenaffe in der Hammerschmiede bei Pforzen. Zudem ist er fast doppelt so alt, wie die bisher bekannten Spezies aus Afrika. Ob mit seinem Fund die menschliche Evolutionsgeschichte neu geschrieben werden muss? Zweifel sind geweckt und die Forschung verspricht sich von seinem Fundort noch viele weitere spektakuläre Funde, ist die Hammerschmiede doch mit durchschnittlich 6-13 Funden pro Tag und Person und bisher entdeckten 115 fossilen Wirbeltieren und 50 Pflanzenarten eine sehr motivierende Fundstelle für Ausgräber. Zu seinem Spitznamen kam er übrigens, weil die Grabungsleiterin Frau Prof. Madelaine Böhme am 17. Mai 2016, dem 70. Geburtstag von Udo Lindenberg, das erste Teil seine Skeletts fand und Lindenbergs Lieder dabei im Radio hörte.
Kloster Irsee © Hans-Jürgen Hereth 2023
Irsee Schiffskanzel © Hans-Jürgen Hereth 2023
Gleich am Ortsende von Pforzen biegt ein stetig aufsteigender Waldweg nach Irsee ab. Die Türme der Klosterkirche sind schon von weiten sichtbar und auf dem Gelände des ehemaligen Klosters und der Brauerei geht es merklich lebhafter zu. Doch für die Kirche scheint sich keiner so recht zu interessieren.
Das Kloster Irsee wurde im 12. JH von Benediktinermönchen gegründet und erreichte um 1521 sogar die Reichsunmittelbarkeit. Nach mehrmaligen Verwüstungen erlebte das Kloster im 18 JH eine neue wirtschaftliche und wissenschaftliche Blütezeit. Äußerer Ausdruck dieser gestiegenen Bedeutung war der Ausbau und die barockisierende Umgestaltung des Klosters, wobei die Abteikirche eine skurrile Besonderheit aufzuweisen hat: seine Kanzel ist wie ein Schiff gestaltet, mit Mast, Takelage, Segel und Engelsfiguren als Schiffsjungen, von der aus man mit Worten in den geistigen Himmel geleitet oder gesegelt wird. Die Hauptvögte von Irsee waren bis zur Säkularisation 1803 die Habsburger, erst danach gelangte es an das bayerische Königtum, das den Wirtschaftsbetrieb verpachtete und das Inventar versteigern ließ. Die wertvolle Bibliothek schenkte König Ludwig I. 1833 der von ihm neugegründeten Benediktinerabtei Metten. Heute ist im Kloster Irsee das Schwäbische Tagungs- und Bildungszentrum, eine Einrichtung des Bildungswerk des Bayerischen Bezirkstages, untergebracht.
Irsee skelettierter Heiliger © Hans-Jürgen Hereth 2023
Irsee Euthanasiebrunnen © Hans-Jürgen Hereth 2023
Direkt hinter der schönen Kanzel der Kirche, auf der Rückseite des Klostergeländes ist die Prosektur angeklatscht. Hier war die Pathologie für die ermordeten Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Beeinträchtigung der „Kreisirrenanstalt“ im Kloster Irsee und der „Kreis-Heil- und Pflegeanstalt“ in Kaufbeuern. Im Rahmen der von den Nationalsozialisten euphemistisch „Euthanasie“ genannten organisierten Kampagne gegen „unwertes Leben“ wurden über 2000 der dortigen Patienten in Vernichtungsanstalten deportiert oder gleich vor Ort getötet. Zwei kleine Tafeln und ein Brunnen erinnern noch daran. Ob sich dorthin überhaupt ein Mensch verirrt?
Leinau Bauernhaus © Hans-Jürgen Hereth 2023
Recht flott führt der Weg den Berg hinab nach Leinau mit seinen schönen alten Bauernhäusern. Kurz danach fährt man in Neugablonz ein. Sehr skurril der ganze Ort, wenn man vorher so viel Schönes gesehen hat. Man hat hier 1945 eine neue Heimat für die Vertriebenen aus den Ostgebieten auf dem Gelände einer Munitionsfabrik erschaffen. In fünf großen Vertriebenenstädten fanden viele von ihnen Unterkunft. Die größte von ihnen wurde in Kaufbeuren-Hart, heute Neu-Gablonz, errichtet. Zunächst hausten 38.000 Vertrieben noch in den Baracken der ehemaligen Zwangsarbeiter, bald schon bauten sie sich ihre ersten „Papageienhäuser“ und nahmen die aus der „alten Heimat“ mitgebrachten Fertigkeiten, die sog. Gablonzer Bijouterie, wieder auf.
Kaufbeuern Creszentiahof © Hans-Jürgen Hereth 2023
Kaufbeuern Hexenturm © Hans-Jürgen Hereth 2023
Um in die Altstadt von Kaufbeuren zu gelangen muss man die Wertach und seinen Radweg überqueren und der Autoausschilderung folgen. Auf dem Radweg kein Problem. Gleich am Beginn der Altstadt und der Fußgängerzone wird man aufgefordert das Fahrrad zu schieben. Die 50 Harley Fahrer, die mit ihren Kutten im Cafegarten sitzen und ihre „crazy horses“ davor aufgebockt haben, geht das Schild natürlich nichts an. Erstaunlicherweise kann einem zunächst keiner sagen, wo sich das Kloster und der berühmte Turm befindet. Ein älterer Herr hat sich dann erbarmt. Man muss nur den Blick heben. Dort oben der Turm und darunter, über Treppen zu erreichen das Crescentiakloster. Ein schöner, kleiner, ruhiger und meditativer Platz und oben am Turm eine Hochzeit in Weiß. Mensch, was willst du mehr.
Noch heute findet zu Jacobi (25. Juli) in Kaufbeuern das Tänzelfest statt. Seit Mitte des 16. JH als Fest der Zünfte gefeiert, wird es 1658 erstmals mit einem Kinderfest in Zusammenhang gebracht. Daran beteiligt waren die protestantischen Kinder des Ortes, die angezogen als Landsknechte, Infanteristen oder Artilleristen und begleitet von Musikern durch die Altstadt zogen. Um 1689 endete auf einem Platz im Wald auf der Buchleuthe, dem "Tänzelhölzle", der Umzug. Hier im „Wunderkreis“ wurden noch Tanzaufführungen und andere Spiele abgehalten. Zwei Tage dauerte das Fest für die Kinder, an denen sie zudem schulfrei hatten. Am dritten Tag schließlich waren die Erwachsenen mit dem Feiern an der Reihe. Auch heute noch wird das Fest mit Lagerleben, Festumzug, Häfelesmarkt und Tanz abgehalten. Mittlerweise gehört es zum Weltkulturerbe der UNESCO.
Pudelwirt © Hans-Jürgen Hereth 2023
Durch Kaufbeuren geht es Richtung Marktoberdorf, vorbei am Pudelwirt, auf schönen Radwegen meist parallel der Bahnstrecke und der B16 über Biessenhofen und Altdorf nach Marktoberdorf. Da man auf dem Radweg kein Ortschild bemerkt, ist man schneller im Ort als man es wahrhaben will. Recht bald kommt man zu einer großen Kreuzung. Unten befindet sich das Rübezahl-Museum, in dem der sagenumwobenen Riese von der Schneekoppe, dem höchsten Berg (1603 Hm) des Riesengebirges, gedacht wird. Mit ihrem Museum wollen die Vertriebenen des Hochelbe-Kreises Brücken zwischen den Völkern und den Zeiten bauen, ebenso wie das neugegründete Dokumentationszentrum Flucht, Verfolgung, Versöhnung in Berlin.
Lindenallee Marktoberdorf © Hans-Jürgen Hereth 2023
Marktoberdorf Schloss © Hans-Jürgen Hereth 2023
Oben auf dem Berg befindet sich das ehemalige Fürstbischöfliche Schloss, in dem heute die bayerische Musikakademie untergebracht ist. Neben der Aussicht kann man dort auch wunderbar die Übungen der Schüler genießen. Direkt am Eingang zum Schloss beginnt die Kurfürstenallee, eine 2 km lange Lindenallee, die leicht bergab auf den Hügelkamm führt und auf der man mit wunderbaren Weitblicken über das Örtchen Heiland nach Rieder gelangt. Hier geht es auf der Trasse der ehemaligen Eisenbahnnebenstrecke über Stötten nach Lechbruck. Kein Auto stört den weiteren Weg. Wenn die Strecke bis Marktoberdorf doch recht eben war, so merkt man jetzt schon allein beim Blick auf den Tacho, dass man im Allgäu unterwegs ist.
Lechbruck muss man nicht gesehen haben, außer vielleicht das dortige Flößermuseum. Der Weg auf den Spuren der Via Claudia Augusta entlang des Oberen Lechsee (Baden!) und des Lech über Bruggen nach Ingenried macht wesentlich mehr Spass. In Ingenried gelangt man auf den Radweg, der auf der Trasse des „Sachsenrieder Bähnles“ verläuft, einer Bahnstrecke, die Schongau mit Kaufbeuren verbunden hat. Immer abwärts geht es über Kaltental nach Waal. Von hier nach Buchloe ist es ein Klaks.
Sehenswürdigkeiten: Neugablonz: Isergebirgs Museum, Kloster Irsee, Brauereimuseum, Denkmal Euthanasie, Türkheim: Sieben Schwaben Museum (im Schloss), Lechbruck: Flößermuseum
Einkehrmöglichkeiten: Türkheim, Biergarten Schlosswirtschaft; Irsee, Klosterwirtschaft; Kaufbeuren, Communebrauerei; Kaltental, Brauerei, Kirnach-Stuben; Ruderatshofen, Gasthof Hubertus
Baden Römerbad Marktoberdorf, Oberer Lechsee